INTERMEZZO

Warum das Identitätsbewusstsein in all seinen gesellschaftlichen Ausprägungen zur spirituellen Kultur gehört

IN DEN VORIGEN KAPITELN HABEN WIR die neuropsychologischen Zusammenhänge der unbewussten Voreingenommenheit und der Identitätsbejahung unter einem breiten Blickwinkel betrachtet. In diesem Intermezzo möchte ich den Fokus auf das Thema eingrenzen, inwieweit Fragen zur Identität in spirituellen Gemeinschaften zum Tragen kommen. In solchen Gemeinschaften findet man oft eine besondere Form der unbewussten Voreingenommenheit: Voreingenommenheit gegen Emotionalität, dagegen, nicht friedlich zu wirken und zu »politisch« zu klingen.

Ich werde mich hier in erster Linie auf buddhistische und andere von östlichen Weisheitslehren beeinflusste Gruppen konzentrieren, da dies die Gemeinschaften sind, in denen ich mich derzeit am meisten engagiere, aber ich weiß, dass ähnliche Vorurteile auch in anderen spirituellen und religiösen Kreisen bestehen.

Der buddhistischen Kanon enthält eine reiche Mythologie, aber es gibt noch einige Mythen der heutigen Zeit, die nur darauf warten, entlarvt zu werden, nämlich: dass der Buddha nicht politisch gewesen sei, dass Spiritualität und soziopolitisches Bewusstsein bzw. Handeln sich nicht mischen und dass Praktiken des Bejahens der eigenen Identität nicht mit der Sicht der absoluten Wirklichkeit in Einklang zu bringen seien.

SHAKYAMUNI WAR EIN PUNK–ROCKER

BUDDHA SHAKYAMUNI LEBTE, ähnlich wie Jesus, in ständiger Konfrontation mit Sexismus, Klassendenken, spaltendem Materialismus und anderen Formen sozialer Entfremdung. Zunächst einmal war der Buddha obdachlos. Zum Luxus seiner fürstlichen Geburt und seines königlichen Status sagte der Buddha »Nö«. Stattdessen entschied er sich dafür, in der Wildnis zu leben. Dann gab er seine Lehren an Menschen aus den niedrigsten, am meisten geschmähten, »unberührbaren« Kasten Indiens weiter, denen es verwehrt war, Spiritualität zu lernen und zu praktizieren. Er schloss auch Frauen mit ein, die in vielen Teilen Südasiens als eine niedrigere Lebensform betrachtet wurden (und immer noch werden).

Dieser Frauenfeindlichkeit begegnete ich in meinen Ashram-Tagen, die nur von kurzer Dauer waren. Offengestanden war sie der Grund, weshalb ich wieder ging. Erinnerst du dich an die Mangal-Aarthi-Strophe, über die ich in der Einleitung gesprochen habe? Sie wurde gesungen, während Cis-Männer im Tempel vorn und Cis-Frauen im Tempel hinten standen. Dieser Brauch wurde vor allem wegen des vorherrschenden Glaubens aufrechterhalten, Frauen hätten geringere spirituelle Fähigkeiten als Männer. Es wurde gelehrt, mitunter sehr genießerisch – und das ist wörtlich gemeint –, dass »Frauen der Jumbo-Becher der geistigen Welt sind, Männer aber der Super-Jumbo-Becher. Frauen haben einen Liter, Männer das Doppelte, so ist es nun mal.«

Daher ist die Auffassung weit verbreitet, dass die besten Chancen einer Frau auf Erleuchtung darin bestünden, einen gesitteten, frommen Mann zu heiraten, um in seinem spirituellen Windschatten ins Große Jenseits zu gelangen. Das war dann umso verwirrender, als mir auch gesagt wurde, das sei der Grund, weshalb ich im Zölibat leben und die Bindungen zu allen Frauen abbrechen müsse; sie würden meinen Jumbo-Becher verwässern (also: Frauen brauchten mich, aber ich musste mich von den Frauen fernhalten?).

Wenn du dich jetzt fragst, wie ein feministischer Mensch, der sich seiner selbst bewusst ist, auch nur das eine Jahr, das ich unter solchen Umständen verbrachte, überlebt hat: Nun ja, ich habe mir immer wieder überlegt, dass mein politisches Anliegen davon getrennt bleiben müsse, da es bei dem Ganzen ja um eine transzendente Angelegenheit ging. Doch diese Transzendenz-Story hatte ein Verfallsdatum.

Die traditionelle Vaishnava-Sekte der Vedanta-Praktizierenden, um die es hier geht, hat diese Praktiken seither verändert und ist, was solche lächerlichen und haltlosen Behauptungen anbelangt, viel zurückhaltender geworden. Zu diesem Fortschritt kam es, weil die Frauen gefordert haben, dass ihre gesellschaftliche Stellung als gleichberechtigt anerkannt wird. Ohne diese Forderung würden sie immer noch hinten stehen und angestrengt nach vorn spähen, nur um einen kurzen Blick auf die Gottheiten Radha-Govinda auf dem Schrein zu erhaschen. Sich der eigenen Identität bewusst zu sein gehört in die Spiritualität hinein, es sei denn, wir wollen in die Zeit um 500 v. Chr. zurückfallen.

Dem Buddha war die entmenschlichende Beschaffenheit zahlreicher sozialer Strukturen um ihn herum bewusst, und er erkannte, dass echte Spiritualität zwangsläufig damit einhergeht, dass wir unsere volle Menschlichkeit einfordern. In vielen buddhistischen Texten mahnt der Buddha seine Schüler*innen, bestimmte gesellschaftliche Normen nicht gutzuheißen, unter anderem auch den Materialismus des Marktes und traditionelle Familienwerte. Einiges weist darauf hin, dass er für die herrschende vedische Orthodoxie ein sehr großer Störfaktor war: Als die Bhagavad Gita (die vielleicht zentralste Schrift der vedischen Religion) schließlich aufgeschrieben wurde, geschah dies nachweislich auch in dem Bemühen, die unterdrückerische Ordnung, die der Buddha demontiert hatte, wieder zusammenzufügen.

In buddhistischen Kreisen behaupten manche, dass jegliches Bekräftigen der eigenen Identität falsch sei. Buddhistische Praktizierende haben sich zum Beispiel so dazu geäußert:

image»Sich auf die Identität zu konzentrieren, verfestigt nur ein falsches Ich-Gefühl. Uns geht es um Transzendenz.«

image»Im Reich der Leerheit gibt es weder Ethnie noch Geschlecht.«

image»Diese Welt ist das Samsara (der Kreislauf des Leidens), und wir werden sie nie in Ordnung bringen; wir können nur für unsere individuelle Befreiung arbeiten.«

ÖSTLICHE SPIRITUELLE VORSTELLUNGEN über Leerheit, Karma und Transzendenz sind zudem in den breiten Hauptstrom der westlichen nichtkonfessionellen Spiritualität eingeflossen. Dort findet man zahlreiche Variationen von Vorstellungen und Haltungen wie »Wir sind alle eins«, »Menschen sind Menschen« und »Liebe ist farbenblind«.

Stimmt: Es ist alles eins. Stimmt auch: Es gibt viele. Stimmt: Wir sind nicht dieser Körper; unsere wahre Natur ist etwas jenseits davon. Stimmt auch: Wir sind dieser Körper; der Körper selbst ist das unverzichtbare, kostbare Mittel, das uns ermöglicht, unsere tiefere Natur zu entdecken. Stimmt: Leiden ist ein innewohnendes Merkmal dieser Welt, und letztlich werden wir daran nichts ändern. Stimmt gleichzeitig aber auch – und zwar ganz besonders: Der Schlüssel zur persönlichen Befreiung liegt im Mitgefühl, also paradoxerweise und unvermeidlich in einer zwischenmenschlichen Situation. Das lässt sich auch an dem erkennen, was viele für die grundlegendste Lehre des Buddha halten: am Achtfachen Pfad. Im Folgenden habe ich die vier Elemente dieses Pfades, die zwischenmenschliche Beziehungen betreffen, kursiv markiert:

1.Rechte Anschauung

2.Rechte Absicht

3.Rechte Rede

4.Rechtes Handeln

5.Rechter Lebensunterhalt

6.Rechte Anstrengung

7.Rechte Achtsamkeit

8.Rechte Versenkung (Meditation)

Unsere wechselseitige Abhängigkeit ist so groß, dass unsere persönliche Freiheit es im wahrsten Sinne des Wortes erfordert, mit dem subjektiven Leiden aller Lebewesen zu arbeiten. Und das bedeutet, andere an dem Punkt, an dem sie stehen, ernst zu nehmen. Mitgefühl bedeutet anzuerkennen, dass du und die Welt der jeweils anderen Person miteinander verbunden sind und dass ihre Anstrengungen deine Anstrengungen sind – unsere Anstrengungen. Wie um alles in der Welt könnten wir privilegierte Praktizierende uns ehrlich auf diese Praxis einlassen, wenn uns die grundsätzliche Offenheit fehlt, die Welt mit den Augen derer zu sehen, die marginalisiert sind? Keine transformative Empathie, kein befreiendes Mitgefühl, keine durchdringende Erkenntnis der Wechselbeziehung mit Shunyata – Leerheit, grundlegende Offenheit – kann entstehen, wenn wir das Gespräch so schnell abbrechen.

»Es ist alles eins« ist die Ebene der absoluten Wirklichkeit. »Es sind viele« ist die Ebene der relativen Wirklichkeit. Diese beiden Wirklichkeiten existieren in gewisser Weise nebeneinander und sind beide gültig. Es ist unmöglich, die eine ohne die andere zu haben, und man kann die eine auch nicht benutzen, um der anderen zu entfliehen. Der beliebte Zen-Lehrer SHUNRYU SUZUKI sagte bekanntlich: »Nicht eins, nicht zwei.« Als ich zum ersten Mal die Definition hörte, was einen erleuchteten Menschen ausmacht, war es diese: »Ein Mensch, der Verblendung und Weisheit gleichzeitig sieht. Ein Mensch, der nach Las Vegas gehen und gleichzeitig Himmel und Hölle sehen würde.«

In der hinduistischen Vedanta-Philosophie gibt es ein Sanskrit-Mantra: Achintya bheda abheda tattva. Wörtlich übersetzt: unbegreifliche Verschiedenheit-Nichtverschiedenheit-Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Die Natur der Wirklichkeit ist eins und viele – was verwirrend ist. Das Relative und das Absolute tanzen zusammen, und das ist nicht zu begreifen. Meine wunderbare erste wahre Lehrerin, AMMA, eine Non-Dualistin, schätzt folgendes Gebet sehr:

Om

Purnamadah purnamidam

Purnat purnamudacyate.

Purnasya purnamadaya

purnam evavasisyate.

Übersetzung: Dieses ist ganz und jenes ist ganz. Aus dieser Ganzheit ist jene Ganzheit gekommen. Nimmt man jene Ganzheit aus dieser Ganzheit heraus, bleibt nur Ganzheit übrig.

Anders ausgedrückt: »Es gibt eine absolute Realität, in der alles eins ist, und unsere Realität ist die, aus der die unterschiedliche Vielheit entnommen ist. Wenn man die vielen aus dem Einen entnimmt, bleibt irgendwie nur die Einheit übrig. Tatsächlich sind die vielen für sich genommen das Eine selbst. Ehre die vielen als das eine.«

Angelegenheiten des Spirituell-Geistigen und Angelegenheiten der materiellen Welt überschneiden sich. Das Absolute tanzt für immer mit dem Relativen. Unsere wahre Natur geht über die begrenzten Vorstellungen, eine Person zu sein, hinaus, die uns unser ganzes Leben lang bestimmt haben. Aber um Ram Dass zu paraphrasieren: »Du muss erst wissen, dass du jemand bist, bevor du erkennst, dass du niemand bist.« Und dieser Kreislauf, jemand zu sein und niemand zu sein, wird so lange andauern, wie wir leben.

TEIL 3 | Ü BUNGEN

ÜBUNG 1 | Herzatmung

NIMM DIR EINIGE MOMENTE ZEIT, um deine Körperhaltung so auszurichten, dass du aufrecht, ausgeglichen und entspannt sitzt. Beginne mit der Bauchatmung, so wie du es in der Übung »Sich erden: Der Atemkörper« auf Seite 109 getan hast. Atme durch die Nase oder den Mund ein und durch den Mund aus. Lass den Atem vordringen bis in die entferntesten Bereiche des Bauches, bis unterhalb des Nabels. Erlaube dem Bauch, sich beim Einatmen angenehm auszudehnen, und entspann dich, während er beim Ausatmen in sich zusammensinkt. Atme langsam, lang, tief und ruhig.

Welche Haltung auch immer du einnimmst, leg fest, wie lange du üben willst (zehn Minuten sind großartig, wenn dir solche Übungen neu sind; zwanzig Minuten sind toll, wenn es nicht dein erstes Mal ist). Stell einen Timer auf deinem Smartphone oder einem anderen Gerät ein. Verpflichte dich dabeizubleiben, bis der Timer sich meldet. Wenn du diese eine Regel diszipliniert einhältst, wird sie dir langfristig sehr gute Dienste leisten.

Dehne den Atem nach zwei oder drei Minuten noch weiter aus. Wenn der Bauch ganz voll ist, atme weiter und lass den Atem das Innere des Brustkorbs, den Bereich des Herzens, ausfüllen. Wenn es sich gut anfühlt, kannst du nach dem Ausatmen innehalten und das Gefühl genießen, dass der Körper ganz mit Atem gefüllt ist. Du kannst auch am Ende der Ausatmung ein paar Sekunden eine sanfte Pause zulassen und alles einen Pulsschlag lang anhalten lassen. Fahre zwei bis drei Minuten so fort.

Löse dich von der tiefen Atmung und genieße das Gefühl der Weite, das sie dem Körper gebracht hat. Lass dein Bewusstsein in die Mitte deines Brustkorbs vordringen, in den Raum des Herzens, und stell dir vor, deine Nase sei dort im Herzraum. Atme ins Herz hinein und aus dem Herzen heraus und fühle, wie es sich dabei hebt und senkt.

Achte bei der Herzatmung darauf, welche Gedanken, körperlichen Empfindungen und Emotionen, welche Geräusche im Raum und welche anderen Sinnesreize deine Aufmerksamkeit erregen. Anstatt zu versuchen, all das auszuschließen, atme es ein. Stell dir beim Einatmen vor, dass dein Atem wie ein Traktorstrahl* ist, der absolut alles in deiner Erfahrung im Raum des Herzens bündelt. Bündle es so tief im Herzen, wie du kannst, wenn möglich bis in dein Rückgrat hinter dem Herzen. Zieh es alles mit jedem Einatmen gesammelt in dich hinein. Lass dann, während du ausatmest, einfach los. Stell dir vor, die Energie all dessen, was im Herzen gesammelt worden ist, entfaltet sich einfach und verteilt sich im Körper – im Rumpf, im Becken, in den Armen, Beinen, Fingern und Zehen.

Es könnte ein paar Minuten dauern, bis du den Dreh heraus hast, aber mach einfach weiter. Atme alles, was du in deiner äußeren und inneren Erfahrung wahrnimmst, weiterhin in den Herzraum hinein, und fühle dann die Befreiung, während du ausatmest. Statt mit »Ablenkungen« zu kämpfen, sammle sie alle ein. Lass sie zu deiner Konzentration, zu deiner Vitalität beitragen. Lass dann jedes Ausatmen fast wie ein Seufzer der Erleichterung sein, eine Pause von aller Anstrengung, ein Moment, um einfach das höchste Geschenk des Lebens zu würdigen: in diesem menschlichen Körper zu leben.

*von einem entsprechenden Projektor ausgestrahltes, gebündeltes Kraftfeld, das auf ein Zielobjekt hin fokussiert wird. Dieser Strahl kann – ähnlich wie ein Schleppseil – das Objekt räumlich in einer bestimmten Entfernung zum Projektor halten bzw. es auf die Position des Projektors heranziehen. Dies ist allerdings ein fiktives Instrument und kommt vorrangig in der Science-Fiction-Literatur vor (Anm. d. Lekt.).

ÜBUNG 3 | Unbewusste Voreingenommenheit neu »verdrahten«

LASS UNS MIT DEN GUTEN NACHRICHTEN beginnen: Wir sind durchaus in der Lage, uns zu verändern. Egal, wie stark wir in unseren Gewohnheiten schon festgelegt sind. Egal, wo wir im Leben stehen. Das Gehirn ist plastisch, formbar, es verändert sich ständig. Die Frage ist also nicht: Können wir uns verändern? Die Frage ist: Was wollen wir verändern? Das Gehirn verändert sich auf der Grundlage dessen, worauf wir achten, und seine Aufmerksamkeit wird von dem angezogen, was neu, für uns persönlich relevant oder besonders intensiv ist. Die folgende Kontemplation bezieht all diese Prinzipien mit ein.

Setz dich bequem hin. Nimm dir einen Moment Zeit, um im Körper anzukommen. Atme ein paarmal tief aus und ein. Versuche, bei dem, was nun kommt, nicht zu hetzen. Respektiere das Tiefgehende, mit dem du dich jetzt befasst, indem du dir Zeit nimmst und ernsthaft bei der Sache bist.

Denk an eine Person, mit der du gern zusammen bist, an den Klang ihrer Stimme, ihre Haarfarbe, ihre nach oben gebogenen Mundwinkel beim Lächeln, an die Kleidung, die sie vielleicht tragen könnte. Stell dir vor, sie sitzt dir direkt gegenüber. Denk nun an einige der vielen guten Eigenschaften: an ihren Anstand, ihren Humor, daran, wie hart sie arbeitet, an eure gemeinsam verbrachte Zeit, alles an der Person, was du positiv mit ihr in Verbindung bringst. Bleib für eine Weile hier und verharre in dem Gefühl, diese Person wegen ihrer Menschlichkeit wertzuschätzen.

Lass uns nun einige andere Dinge an diesem Menschen betrachten, die dir gefallen. Vor allem, dass er in vielerlei Hinsicht genauso ist wie du. Genau wie du hat er manchmal zu kämpfen. Genau wie du ist er verletzt worden, wurde ihm das Herz gebrochen, fühlte er sich von anderen betrogen. Genau wie dein Leben ist auch seins kompliziert, hektisch, schwer zu bewältigen. Genau wie du hat diese Person große Träume, die sie mit unstillbarer Sehnsucht erfüllen. Genau wie du hat sie manchmal das Gefühl, sie sei nicht gut genug oder unzulänglich und es deshalb nicht wert, das Leben zu führen, dass sie wirklich führen will. Sie kämpft mit ihrer Orientierung. Sie hat in engen Beziehungen zu kämpfen. Auch sie liebt. Auch sie lacht. Genauso wie du sehnt sie sich danach, ein schönes Leben zu haben – was auch immer ihre Version davon ist –, und Schmerz, Bedrängnis, Scheitern und Angst zu vermeiden. Sie ist in fast jeder Hinsicht genau wie du. Es ist, ehrlich gesagt, ziemlich schön, das so tief anzuerkennen. Schick ihr hier ein bisschen Liebe. Sende einen energetischen Wunsch aus, dass es ihr gut gehen möge, dass sie glücklich ist und sich wohlfühlt. Nimm wahr, wie sich das anfühlt.

Wenn du bereit bist, atme ein paarmal durch und lass die Person sich in Nebel auflösen.

Denk jetzt an jemanden, von dem du meinst, er oder sie sei anders als du. Im Idealfall ist es jemand aus einer Kultur, mit der du bislang wenig zu tun hattest. Die Person könnte einer anderen Ethnie angehören oder aus einem anderen Land kommen. Sie könnte trans sein. Sie könnte intersexuell sein. Sie könnte schwul oder bi sein. Sie könnte eine Religion ausüben, die du nicht wirklich »nachvollziehen« kannst. Vielleicht hat dieser Mensch einen höheren oder niedrigeren Lebensstandard als du. Er ist vielleicht arbeitslos. Er hat vielleicht ein gesundheitliches Problem wie Krebs oder AIDS. Er hat vielleicht einen Körper, der auf sonstige Weise anders ist, zum Beispiel ein Gesicht, das nicht dem Üblichen entspricht, oder ihm fehlt ein Körperteil. Er könnte im Rollstuhl sitzen. Er könnte dick sein. Vielleicht nimmt er Drogen. Vielleicht kommt er dir aus einem anderen Grund »anders« vor.

Wähle jemanden aus. Du brauchst nicht unbedingt mit einer »perfekten« Person zu arbeiten. Jede, die du im Grunde nicht so gut »verstehst«, genügt. Denk darüber nach, wie sie aussieht, wie ihre Stimme klingt, welche Haarfarbe sie hat, wie ihr Lächeln, ihr Körper, ihre Haut aussieht, wie ihr allgemeines Auftreten ist, welche Kleidung sie tragen könnte. Stell dir vor, dass sie direkt neben dir sitzt … ganz nah.

Lass zu, dass deine Reaktionen an die Oberfläche kommen. Dies ist ein Raum, in dem nicht geurteilt wird und der zudem privat ist. Jeglicher Widerwille, jegliche Abneigung, Furcht, Verurteilung oder sogar Abscheu, die du vielleicht empfindest, kannst du hier zugeben und dich dabei sicher fühlen. Es mag zwar beunruhigend sein, sich solche Gefühle einzugestehen, aber wir können und werden uns nicht ändern, solange wir nicht ehrlich zugeben, was vor sich geht. Lass es also hochkommen. Lass alle Gefühle, Gedanken und Wahrnehmungen hochkommen, die du angesichts dieser Person hast.

Wie zuvor, betrachten wir auch hier nun einige andere Aspekte der Person und ihres Lebens, die dem Leben, das du führst, auffallend ähnlich sind. In vielerlei Hinsicht ist sie genau wie du. Genau wie du hat sie manchmal Schwierigkeiten. Genau wie du ist sie verletzt worden, war todunglücklich, fühlte sich von anderen betrogen. Genau wie dein Leben ist auch ihres kompliziert, hektisch, schwer zu bewältigen. Genau wie du hat diese Person große Träume, die sie mit unstillbarer Sehnsucht erfüllen. Genau wie du hat sie manchmal das Gefühl, sie sei nicht gut genug oder unzulänglich und es deshalb nicht wert, das Leben zu führen, dass sie wirklich führen will. Sie kämpft mit ihrer Orientierung. Sie hat in engen Beziehungen zu kämpfen. Auch sie liebt. Auch sie lacht. Genauso wie du sehnt sie sich danach, ein schönes Leben zu haben – was auch immer ihre Version davon ist – und Schmerz, Bedrängnis, Scheitern und Angst zu vermeiden. Sie ist in fast jeder Hinsicht genau wie du. Sie verdient genauso viel Respekt wie du. Sie verdient es, mit dir an einem Tisch zu sitzen.

Verweile. Nimm wahr, was sich in dirverändert. Vielleicht spürst du mehr Abneigung, vielleicht bist du etwas weicher geworden. Das ist in Ordnung. Verweile.

imageWENN DU ABNEIGUNG EMPFINDEST.

Kannst du auf die direkte Erfahrung der Abneigung neugierig werden? Geh dabei der mentalen Geschichte, die du über diese Person hast, nicht weiter nach, ebenso wenig Fragen wie der, warum du Ablehnung empfindest oder warum du ein schlechter Mensch bist. Leg das einfach beiseite. Wie ist die Erfahrung der Abneigung an sich? Wie macht sie sich im Körper bemerkbar? Fühlt sie sich schwer an? Angespannt, eng? Befindet sie sich an einer bestimmten Stelle? Werde neugierig auf die Gefühle, die du empfindest, und bleib bei ihnen. Es gibt hier kein anderes Ziel, als neugierig zu sein und dabei präsent zu bleiben. Atme in die körperlichen Empfindungen oder Gefühle hinein. Bleib dabei. Mit der Zeit wirst du dadurch allmählich Dinge erfahren. Das Gefühl wird sich verändern. Es ist gut, dass du ehrlich damit umgehst. Wir alle haben dieses Problem. Du tust einen großen Schritt, indem du es angehst.

imageWENN SICH DAS GEFÜHL VERÄNDERT HAT.

Schick der betreffenden Person etwas Liebe. Sende einen energetischen Wunsch aus, dass es ihr gut gehen möge, dass sie glücklich ist und sich wohlfühlt. Nimm wahr, wie sich das anfühlt.

Darüber nachdenken, woher wir kommen: Versöhnung, Dankbarkeit und Blick nach vorn | ÜBUNG 3

SETZ DICH BEQUEM HIN, atme ein paarmal durch, und mach es dir gemütlich.

Nimm dir etwas Zeit, um zu überlegen, wie viele Variablen zusammenkommen mussten, nur damit du in diesem gegenwärtigen Moment hier bist. Wie hast du dir die Ressourcen angeeignet, um dir dieses Buch zu beschaffen? Was war alles nötig, damit du körperlich und geistig in der Lage bist, dieses Buch zu lesen oder es dir anzuhören und es zu verstehen? Denk an die Infrastruktur, die Nahrung, das Wasser, den Strom, die Rohmaterialien für das Haus, in dem du wohnst, und vieles mehr, was zusammenkommen musste, damit du in diesem Augenblick hier sein kannst. Denk an die Bäume, die gefällt wurden, um dieses Buch herzustellen – und an den Regen, das Sonnenlicht, den Erdboden und die Mikroorganismen, die in das Wachstum dieser Bäume eingeflossen sind. Denk an die Weisheitsüberlieferungen des Buddhismus und des Hinduismus, an Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, Neurowissenschaften und Psychologie, die im Laufe der Zeit umsichtig entwickelt, bewahrt und über Generationen hinweg weitergegeben wurden (im Fall des Buddhismus und des Hinduismus über Jahrtausende hinweg), in der Hoffnung, dass sie für dich – eigens für dich – in irgendeiner Weise nützlich oder hilfreich sind. Spüre jegliche dankbaren Gefühle oder Worte, die dir in den Sinn kommen, wenn du dieses riesige Erbe betrachtest.

Denk an die Menschen, die früher das Land bewohnt haben, in dem du heute lebst. Weißt du, wer sie waren? Wenn nicht, könntest du es vielleicht nach dieser Übung herausfinden. Führ dir vor Augen, dass Menschen hier ihr ganzes Leben verbracht haben, Generationen von Familien. Denk daran, dass sie harte Winter oder Sommer – oder beides – und große Widrigkeiten überstehen mussten. Denk an die Nahrung, die hier angebaut wurde. Stell dir vor, was sie zum Zeitvertreib getan, welche Spiele ihre Kinder gespielt haben. Mach dir bewusst, dass genau hier in der Gegend Abertausende Menschen verfolgt wurden und gestorben sind. Spüre die Reue, die vielleicht deswegen in dir aufsteigt. Sei dankbar dafür, dass du in relativer Sicherheit dort sein kannst, wo du bist.

Überlege, welche Rolle ausbeuterische Arbeit beim Aufbau der Infrastruktur, die dich umgibt, gespielt hat. Denk an den Aufbau der Landwirtschaft und einer gesunden Wirtschaft, an den Bau von Eisenbahnen und Brücken, die den Transport der Rohstoffe, aus denen deine Stadt gebaut wurde, möglich machten. Bedenke, dass viele dieser Menschen ihre Arbeit nur aus Angst vor dem Verhungern oder vor unsäglichen Strafen – weil ihnen keine andere Wahl blieb – getan haben. Bedenke, dass viele von ihnen bei der Arbeit gestorben sind, und dass du davon profitierst. Spüre jegliche Reue, die angesichts dessen aufkommt. Würdige sie. Danke ihnen von Herzen für ihre unglaubliche Plackerei.

Betrachte die Arbeit von zugewanderten Arbeitskräften, die oft stark unterbezahlt sind. Wenn du in den Vereinigten Staaten lebst, ist es sehr wahrscheinlich, dass du die ganze Woche über Lebensmittel konsumiert hast, die von illegalen Einwanderern geerntet, gereinigt, verpackt und versandt worden sind. Denk daran, dass sie Steuern gezahlt haben, die die Infrastruktur und die Wirtschaft, in der du lebst, unterstützen. Mach dir bewusst, dass sie nie ohne die Angst leben können, abgeschoben zu werden – in vielen Fällen zurück in lebensfeindliche und lebensbedrohliche Umstände. Bedenke, dass sie Eltern und Kinder haben und von einem guten Leben träumen, genau wie du. Erkenne an, dass viele von ihnen tatsächlich zurückgeschickt werden, und zwar in Umstände, die nahezu sicher Folter und sogar Tod bedeuten. Lass die Gewissensbisse und alle anderen Gefühle, die du diesbezüglich hast, hochkommen. Danke diesen Menschen für ihren Beitrag zu deinem Wohlergehen.

Denk zu guter Letzt darüber nach, wie deine Familie dorthin gelangt ist, wo du geboren wurdest. Sind deine Vorfahren eingewandert? Falls ja, aus welchem Land kamen sie? Wurden sie unfreiwillig in deine Heimat gebracht? Wie waren ihre Lebensbedingungen? Überleg dir, was frühere Generationen deiner Familie dort, wo sie damals lebten, durchgemacht haben könnten. Betrachte ihren Lebenskampf mit Mitgefühl. Danke ihnen für ihren Beitrag.

Wie willst du mit all dem vor Augen heute in die Welt gehen und darin leben? Wie willst du all deine menschlichen und sonstigen Beziehungen und Vorfahren würdigen und was für ein Vorfahre, was für eine Vorfahrin willst du für die Menschen der Zukunft sein?